Eine Reflexion über das 'Neu-sein'
In einen neuen Job bringt man immer auch viel Lust mit, etwas zu verändern. Man sollte aber erstmal das bestehende System verstehen und lernen, sich darin zu bewegen. In diesem Text reflektiere ich über meine Erfahrungen.
Als ich 2022 in einer neuen Firma als Softwareentwickler angefangen habe, bin ich ziemlich schnell ziemlich angeeckt.
Ich kam frisch aus einem Startup. Dort hatten wir alles aufgebaut: Das Produkt, das Testsystem, die Hardware, die Software, aber vor allem auch die Arbeitsprozesse und Strukturen. Kaum einer von uns wusste wirklich, wie man “richtig” arbeitet - und wir haben immer infrage gestellt, was “richtig” eigentlich bedeuten soll. Wir haben viel ausprobiert, viel neu entdeckt und zugegeben auch oft das Rad neu erfunden.
Dieser neue Job war mein erster “richtiger” Job: Ein mittelständisches Unternehmen, mit etablierten Arbeitsabläufen und Hierarchien. Das Produkt war ein sogenanntes Brain Computer Interface: Das ist ein Gehirnimplantat, mit dem die Kommunikation mit dem Computer für therapeutische Zwecke ermöglicht werden soll. Die Codebase war gewaltig. Um so ein komplexes Produkt entwickeln zu können hat das Unternehmen im Laufe der Jahre ebenso komplexe Prozesse entwickelt. Es hatte schon längst die Startup-Phase hinter sich. Und dann kam ich, und ich war mental noch in eben dieser Startup-Phase.
Move fast and break things — oder nicht?
Bereits wenige Wochen nach meinem Start fing ich an, Fragen zu stellen: Warum machen wir es so und nicht so? Könnte man nicht diesen Schritt automatisieren? Ist dieser Schritt nicht überflüssig? Warum ist das so kompliziert, geht das nicht auch einfacher? Zwar hatte ich zu jeder Frage einen Lösungsansatz, aber letztendlich wurden viele meiner Vorstöße, mal weniger freundlich, mal noch weniger freundlich, zurückgewiesen. Ich ging oft mit dem Gefühl nach Hause, ein schlechter Entwickler zu sein. Und noch öfter hatte ich das Gefühl, missverstanden zu sein. Das tat weh. Nach 1 1/2 Jahren kündigte ich innerlich, nach 2 Jahren kündigte ich.
Tatsächlich aber wurden ein paar meiner Ideen im Laufe meiner Anstellung übernommen, teils unter einem anderen Framing und im Rahmen anderer Projekte. Das zeigte mir, dass ich nicht immer auf dem Holzweg war. Trotzdem denke ich viel darüber nach, warum ich angeeckt bin und was ich hätte besser machen können. Natürlich trifft mich nicht die Gesamtverantwortung, aber ich bin der einzige Mensch, den ich ändern kann.
Warum war ich also angeeckt?
- Ich wusste nicht, wie die Zahnräder im technischen System ineinander greifen. In einem historisch gewachsenen, verteilten System mit sehr vielen Interdependenzen ist fast jede Änderung wie ein chirurgischer Eingriff. Ein harmloses Beispiel: Einmal hatte ich den Namen eines Buildartefakts umbenannt, um ihn konsistent mit unserer restlichen Namensgebung zu machen. Was ich nicht wusste: Das Buildsystem hatte genau diese Benennung erwartet und schlug deshalb fehl. Der Fehler ist erst Wochen später, kurz vor einer Deadline, aufgefallen und hat uns ziemliche Kopfschmerzen bereitet (die Deadline haben wir trotzdem geschafft).
- Wenig Erfahrung in Entwicklungsprozessen in der Medizintechnik und die Rahmenbedingungen an die Arbeitsabläufe, die damit kommen. Um ein Produkt ein Medizinprodukt nennen zu dürfen, muss der gesamte Entwicklungsprozess im V-Model ablaufen. Es ist möglich, iterative und quasi-agile Unterprozesse darin einzubetten, man muss aber genau wissen, was regulativ geht und was nicht. Außerdem gibt es dadurch immer Reibung an den Systemgrenzen, wenn Abteilungen unterschiedliche Arbeitsabläufe haben, aber eigentlich aufeinander angewiesen sind.
- Ich kannte nicht die Komplexität des sozialen Systems im Unternehmen. Wer kann mit wem und mit wem garnicht? Wer steht wo in der formalen und wo in der tatsächlichen Hierarchie? Außerdem muss man sich dessen bewusst sein, wie unfassbar viel Arbeit in den Status Quo reingesteckt wurde. Man muss den Macherinnen und Machern, die schon seit vielen Jahren daran arbeiten, immer wieder die verdiente Wertschätzung für ihre Leistung entgegenbringen.
Einordnung
In der japanischen Kampfkunst gibt es das Konzept von Shu-Ha-Ri. Es beschreibt die Schritte vom Lehrling zum Meister. Der erste Schritt ist das Shu: Lerne durch Nachahmung, befolge die Regeln. Bilde das Fundament deines Könnens und lerne die Techniken. Dann folgt das Ha: Wende das Gelernte an, finde Ausnahmen zu den Regeln. Erst dann folgt das Ri: Nutze deinen großen Erfahrungsschatz und entwickle neue Regeln.
Rückblickend sehe ich: Ich bin nie über das Shu hinaus gekommen, vielleicht habe ich kurz am Ha gekratzt. Ich wollte direkt die Architektur anpacken, beherrschte aber nicht einmal das Handwerk. Ich wollte direkt mitreden, verstand aber nichtmal die Sprache.
Wenn ich eines gelernt habe, dann ist es Demut.